Vom Engel, der nicht singen wollte

Als die Menge der himmlischen Heerscharen über den Feldern von Betlehem jubelte, hörte ein kleiner Engel plötzlich zu singen auf. Die Sänger neben ihm stutzten und setzten ebenfalls aus. Das Schweigen pflanzte sich rasch fort und hätte beinahe den ganzen Chor ins Wanken gebracht. Ein Großengel ging dem gefährlichen Schweigen nach, "Warum willst du nicht singen?", fragte er ihn streng, "Ich wollte ja singen. Ich habe gesungen bis zum Ehre sei Gott in der Höhe. Als dann das mit dem Frieden auf Erden kam, konnte ich nicht mehr weiter mitsingen. Es ist nicht wahr, dass auf Erden Frieden unter den Menschen ist, und ich singe nicht gegen meine Überzeugung!" Einige seiner Nachbarn riefen laut Beifall.

"Schweigt! Vielmehr singt!", rief der große Engel ihnen zu und nahm den Rebellen zur Seite. "Du verstehst nicht, was in dieser Nacht in Betlehem geschehen ist und willst die Not der ganzen Welt verstehen. Dieses Kind, das geboren wurde, soll unseren Frieden in die Welt bringen. Wir übertönen mit unserem Gesang nicht den Zwiespalt, wie du meinst. Wir singen das neue Lied."

Der kleine Engl rief: "Wenn das so ist, singe ich gerne weiter." Der Große schüttelte den Kopf und sprach: "Du wirst nicht mitsingen. Du wirst einen anderen Dienst übernehmen. Du wirst von heute an den Frieden Gottes zu den Menschen tragen. Tag und Nacht wirst du unterwegs sein. Du sollst an ihre Häuser pochen und ihnen die Sehnsucht nach Frieden in die Herzen legen.

Der kleine Engel wollte sich gegen diese schwere Aufgabe auflehnen, aber der andere Engel sagte: "Du hast es so gewollt. Du liebst die Wahrheit mehr als das Gotteslob. Und nun geh. Unser Gesang wird dich begleiten, damit du nie vergisst, das der Friede in dieser Nacht zur Welt gekommen ist."

Dann setzte der Engel des Friedens seinen Fuß auf die Felder von Betlehem. Er ging in die weite Welt und begann zu wirken. Angefochten und immer neu verwundet tut er seither seinen Dienst und sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach dem Frieden nie mehr verschwindet, sondern wächst, Menschen beunruhigt und dazu antreibt, Frieden zu suchen und zu schaffen. Wer sich ihm öffnet und hilft, hört plötzlich wie von Ferne einen Gesang, der ihn ermutigt, das Werk des Friedens unter den Menschen weiterzuführen.

Gekürzt aus: Texte zum Kirchenjahr, Haus der Stille, A 8081

 

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Stand: 26. Dezember 2001